Unterwegs mit der Rhätischen Bahn
Fotos & Text: Jörgen Camrath
Spektakuläre Ausblicke, UNESCO-Welterbe und höchste Eisenbahn der Alpen: Die Verbindung von Chur nach Tirano gehört mit ihrer Vielzahl an Tunneln und Brücken zu den eindrucksvollsten Strecken der Welt. Mit einer Länge von rund 150 Kilometern ist sie gut an einem Tag zu schaffen. Das wäre jedoch ein großer Fehler.
Wenn über wunderschöne Eisenbahnrouten in der Schweiz gesprochen wird, dann fällt recht häufig der Begriff Bernina Express. Reiseanbieter und Webseiten versprechen traumhafte Aussicht auf tiefe Täler, gigantische Gletscher und smaragdfarbene Seen. Und das alles dank großer Panoramafenster und komfortabler Sitze. Kein Wunder also, dass Sitzplätze oft schon Monate im Voraus ausgebucht sind. Doch es geht auch besser – und günstiger.


9.58 Uhr: Bahnhof Chur
Der Bahnhof von Chur liegt direkt im Zentrum der Stadt. Wer sich vor der Abfahrt noch mit Proviant eindecken möchte, wird daher schnell fündig. Hinweisschilder am Eingang zum Gebäude lassen erahnen, wohin die Reise geht. An Gleis 10 wartet bereits der Zug nach St. Moritz – ein IR der Rhätischen Bahn mit Halt unter anderem in Thusis, Tiefencastel, Bergün und Samedan.


Die Strecke von Chur nach St. Moritz führt ab Thusis durch das rund 20 Kilometer lange Albulatal. Spätestens ab der Station Solis lohnt es sich daher, bei gutem Wetter das Fenster zu öffnen. Denn die jetzt folgenden kleinen und großen Viadukte sind ein echter Blickfang – vor allem natürlich das berühmte Landwasserviadukt.
Und das ist bereits der entscheidende Punkt: Denn Fenster öffnen – das funktioniert in den Panoramawagen des Bernina Express nicht. Darum lohnt es sich, ein reguläres Ticket für die erste oder zweite Klasse der Rhätischen Bahn zu buchen. Dort gibt es zwar keine Sitzplatzreservierungen. Dafür aber deutlich mehr Flexibilität.
Die normalen Tickets für die Fahrt von Chur nach Tirano lassen sich auf der Webseite der Rhätischen Bahn kaufen, aber zum Beispiel auch bei der Deutschen Bahn. Und während das 1.-Klasse-Ticket im Bernina Express für die Hin- und Rückfahrt regulär rund 300 Euro kostet (2. Klasse: 200 Euro), gibt es einen Platz in den normalen Abteilen günstiger – mit entsprechenden Sparpreisen sogar deutlich*. Auch bleibt ohne feste Reservierung mehr Zeit für einen kurzen oder längeren Zwischenstopp, zum Beispiel zum Wandern.
*Tatsächlich hat mein Ticket von München über Chur nach Tirano und zurück insgesamt 130 Euro gekostet – in der ersten Klasse mit Zwischenstopps.


13.33 Uhr: Ospizio Bernina
Nach Überquerung des berühmten Landwasserviadukts und Umstieg in die Berninabahn hat der RE 9 von St. Moritz nach Tirano mittlerweile den höchsten Punkt der Strecke erreicht. Auf 2.253 Metern über dem Meeresspiegel liegt der Bahnhof Ospizio Bernina und bietet einen atemberaubenden Blick auf den Lago Bianco und die umliegenden Berge.


Am östlichen Ufer des Sees entlang fährt die Bahn weiter über Alp Grüm, Cavaglia, Poschiavo, Le Prese nach Brusio. Hier befindet sich mit dem Kreisviadukt von Brusio eines der Wahrzeichen der Berninabahn. In einem weiten Bogen fährt der Zug auf einer Länge von rund 140 Metern über neun Bögen, bevor er am Talboden angekommen schließlich einen der Bögen durchquert.
Hier werden schnell noch einmal alle Fenster geöffnet, um Fotos von diesem ganz speziellen und einzigartigen Eisenbahnbauwerk zu machen. So blickt das eingleisige Viadukt nicht nur auf eine mehr als 100-jährige Geschichte zurück – es ist auch Teil des UNESCO-Welterbes.

Jetzt stehen die letzten rund sieben Kilometer bis nach Tirano an. Über Campascio und den Grenzbahnhof Campocologno erreicht die Berninabahn schließlich Italien. Doch bevor es in den Bahnhof geht, wartet noch ein finales Highlight auf die Zuggäste.



Denn ab dem Ortseingang von Tirano fährt die Berninabahn wie eine Straßenbahn etwa 600 Meter mitten auf der Straße. Dabei überquert sie auch den Hauptplatz der Stadt und passiert die Basilika Madonna di Tirano, die weit über die Grenzen der Lombardei hinaus bekannt ist.

15.00 Uhr: Bahnhof Tirano
Tirano ist eine Kleinstadt mit rund 9.000 Einwohnenden und Hauptort der gleichnamigen Gemeinde in der italienischen Provinz Sondrio, Region Lombardei. Wer hier Urlaub macht, kommt mit der Bahn – und bleibt in der Regel nicht lange. Denn die meisten Tourist:innen, die mit dem Bernina Express am Bahnhof ankommen, fahren schnell wieder zurück. Dabei lohnt sich ein Abstecher in die Altstadt, zur Basilika und in die umliegenden Berge.
Der nächste Tag. Mit einem der ersten Züge geht es zurück in die Schweiz. Und dabei ist ein Zwischenstopp in Alp Grüm Pflicht – egal ob auf dem Hin- oder Rückweg. Wer mit dem „Panorama Express“ unterwegs ist, der hat hier eine feste Aufenthaltszeit von rund 25 Minuten. Das reicht, um zumindest ein paar Fotos vom markanten Bahnhofsgebäude und dem Palügletscher zu machen. Für alles andere lohnt sich eine Übernachtung in einem der wenigen Hotels vor Ort.


11.26 Uhr: Alp Grüm
Mit einer Höhe von rund 2.100 Metern über dem Meeresspiegel gehört die kleine Siedlung Alp Grüm zu den höchstgelegenen Stationen der Berninabahn. Das heutige Bahnhofsgebäude ist Restaurant und Hotel gleichermaßen und verfügt über zehn Zimmer. Sind diese ausgebucht, gibt es in unmittelbarer Umgebung weitere Übernachtungsmöglichkeiten – zum Beispiel im Casa Ristorante Belvedere. Dort steht nicht nur ein hervorragendes hausgemachtes Brot auf der Speisekarte. Am Abend gibt es für Hotelgäste auch ein leckeres und frisch zubereitetes Menü aus regionalen Zutaten.


Vom Bahnhof Alp Grüm fällt der Blick sofort auf den imposanten Palügletscher. Dieser speist den Lago Palü und spendiert ihm seine milchig-grüne Farbe. Der See wurde 1926 angelegt und dient dem Kraftwerk Palü als Tagesspeicher. Darauf weisen auch die diversen Schilder hin, denen man beim 15-minütigen Abstieg zum See begegnet.

Wenn am Abend der letzte Zug den Bahnhof verlassen hat, kehrt Ruhe ein. Jetzt gehört dieser Ort wieder ganz der Natur und den wenigen Menschen, die hier die Nacht verbringen. Und die kann es in sich haben. Denn das Wetter ist launisch so hoch in den Bergen. Wo am Abend noch Gewitter mit Hagel und Sturmböen den Weltuntergang ankündigt, begrüßen am Morgen ein blauer Himmel und die ersten warmen Sonnenstrahlen die Frühaufsteher.


Mit einem wehmütigen Blick ins Tal und dem Versprechen, dass dies nicht die letzte Reise nach Alp Grüm war, geht es mit der Rhätischen Bahn zurück nach Chur. Noch einmal am Lago Bianco entlang, noch einmal am Morteratschgletscher vorbei und durch die Montebello-Kurve. Dann der Wechsel auf die Albulalinie und die Abfahrt nach Thusis durch kurze und lange Tunnel und über hohe und nicht ganz so hohe Viadukte.
Und ja – man kann diese Strecke an einem Tag fahren. Sogar hin und zurück. Aber man sollte es nicht tun. Denn nie war der Satz „Der Weg ist das Ziel“ so treffend wie bei einer Fahrt mit der Rhätischen Bahn. Und Weg bedeutet eben auch, dass man ihn hin und wieder verlässt.